Ich bin eine Freundin einer HG Betroffenen

Laraina, Samstag, 02. Mai 2020, 13:40 (vor 1426 Tagen)

Hallo ihr Lieben

Vorweg: ich bin nicht betroffen von der HG. Bin aber schwanger in der 11. SSW und abgesehen von ein paar Wehwehchen und leichter übelkeit geht es mir gut.

Das wäre ja ein Grund, sich zu freuen. Nun ist es aber so, dass eine sehr gute und mir nahe stehende Freundin gerade durch ihre 2. HG-Schwangerschaft gehen muss. Es tut mir unfassbar leid und ich habe absolute Hochachtung vor euch, die eine HG-Schwangerschaft durchleben mussten!
Aber meine Freundin fragt mich momentan immer wieder, wie es mir geht. Wenn ich ihr ehrlich sage, wie es mir geht (wie oben erwähnt, ein paar Wehwehchen), dann stürzt sie sich verbal auf mich und äussert, ich solle gefälligst froh und dankbar sein, dass es mir so gut geht.

Beispiel heute Morgen:
Sie schreibt mir: wie geht es dir heute?
Ich: geht mir gut, danke. Wie geht es dir?
Sie: schön, dass es dir gut geht. Ich bin schon wieder im Badezimmer seit 4 Stunden.
Ich: Oh du Arme. Tut mir sehr leid. Wünsche dir viel Kraft.
Sie: du hast ja keine Ahnung, wie es ist. Was soll ich mit deiner Kraft?!?! Das hilft mir nun wirklich nicht!

Dann lass ich es meist.

Schreibe ich nichts zurück auf ihre Nachricht, dass sie am erbrechen ist seit Stunden, dann bin ich die blöde ignorante Freundin.

Was soll ich denn noch tun???
Auch Anrufe nehme ich nur noch ungern entgegen. Weil sie mich da immer zur Zielscheibe macht. Fragt sie, was ich noch vorhabe. Sage ich: ich gehe noch einkaufen oder muss bald anfangen zu kochen. Dann stürzt sie sich wieder komplett mit Anschuldigungen, ich würde es ihr unter die Nase binden, wie gut ich noch alles machen könne, auf mich.

Hab schon angefangen, sie anzulügen. Bringt auch nichts. Hab schon statt kochen eine banale Tätigkeit wie lesen oder TV gucken erwähnt. "Ich nehme ein Bad" quittiert sie fann mit: ja geil, das musst du mir natürlich erzählen. Du weisst genau, ich kann das nicht!

Alle Tätigkeiten, die ich mache, würde ich ihr absichtlich unter die Nase binden. Das ist überhaupt nicht der Fall.

Darum wende ich mich nun an euch: wie soll ich ihr noch begegnen? Ich bin kurz davor, die Freundschaft zu beenden.

Vielen Dank für eure Nachrichten und BITTE seht mich nicht als triumphierende Schwangere ohne HG, die euch ihre "gewöhnliche" Schwangerschaft auf die Nase binden will. Die habe ich nämlich laut meiner Freundin nicht verdient. Wirkluch verdient Mutter sei nur eine HG-Überlebende.

Lg Laraina

Ich bin eine Freundin einer HG Betroffenen

Sonja2, Samstag, 02. Mai 2020, 15:11 (vor 1426 Tagen) @ Laraina

Liebe Laraina,

herzlichen Glückwunsch zu Deiner Schwangerschaft. Ich freue mich für Dich – und das meine ich ganz ernsthaft und ohne jegliche Ironie – dass Du eine unbeschwerte Schwangerschaft genießen darfst, die sicherlich die ein oder andere Einschränkung oder Besonderheit mit sich bringt, aber ohne quälende Erlebnisse bleibt. Und ich freue mich auch, dass Du eine Freundin hast, um deren Wohl Du Dich sorgst und die Dir wichtig ist, so wichtig, dass Du nach einer Lösung für Eure verfahrene Situation suchst.

Es gibt jetzt verschiedene Aspekte, auf die ich eingehen möchte.

1) Deiner Freundin geht es offensichtlich sehr schlecht. Ich frage mich, ob sie ausreichend medizinisch versorgt ist. Leider sind viele Frauen mit HG nicht ausreichend medizinisch versorgt und sind in einem zu elenden Zustand, um selber für eine bessere Versorgung zu sorgen – oder manchmal auch zu kämpfen. Hier braucht es ein Umfeld: Partner, Eltern, Geschwister, Freunde, die sich einsetzen, die die Betroffene zu den Ärzten und ins Krankenhaus begleiten, die für die Betroffene sprechen und manchmal auch streiten, die sich die Informationen zu der Erkrankung besorgen, sich kundig machen, Kontakt suchen (so wie Du das gerade machst) und nach Lösungen für die medizinische Problematik suchen.

2) Manchmal ist die HG so schlimm, dass sie auch bei optimaler Behandlung unerträglich bleibt. Oder die Verletzungen sitzen tief, weil die Behandlung nicht zugänglich ist und die Betroffene als hysterisch abgetan wird, die sich einfach nur besonders anstellt, wahrscheinlich ein psychisches Problem hat und halt durch diese Zeit durch muss (all das stimmt nicht, wird aber leider im medizinischen Kontext viel zu oft noch so an die HG-Betroffenen herangetragen). Dann ist von Ingwer die Rede und vom Spaziergang und ob man es schon mal mit Globuli versucht habe und es wird einem gesagt: „Ja mir war es ja auch schlecht, aber ich bin trotzdem noch jeden Tag zur Arbeit gegangen und habe halt auf dem Weg dorthin ins Gebüsch gekotzt“ … alles Aussagen, die das Gefühl entstehen lassen, dass das Gegenüber nicht weiß, dass das hier eben ANDERS ist als „normale“ Schwangerschaftsübelkeit. Du scheinst das zu wissen, aber Du hast es mit jemanden zu tun, die mit großer Sicherheit bereits erlebt hat, dass ihr Zustand nicht ernstgenommen wird und abgetan wird und nicht gesehen wird. Eine Schwangere, die in einem elenden – absolut elenden – Zustand ist, die oft existenziell angewiesen ist auf Hilfe und gleichzeitig erlebt, dass das Umfeld sie als Simulantin oder Hypochonder behandelt oder zumindest in diese Richtung etwas anklingen lässt (und das ist leider die Erfahrungswirklichkeit von ganz vielen Betroffenen), die verändert sich. Diese Veränderung ist somit nicht gegen Dich gerichtet, sondern der Erkrankung geschuldet.

=> Mein Rat ist immer, dass man sich vorstellt, man habe es mit einer Frau zu tun, die gerade eine Chemotherapie durchmacht. Und alles, was man einer Chemo-Patientin nicht sagen würde, das sollte man einer HG-Betroffenen auch nicht sagen. (Ich glaube, die wenigsten würden eine Chemo-Patientin beispielsweise fragen, ob sie schon einmal dieses oder jenes Globuli ausprobiert haben …)

=> Sehr berührt hatte mich, wie hier vor vielen Jahren Silja schrieb von der sie behandelnden Oberärztin, die sinngemäß so etwas sagte wie: „Nach allem, was ich bislang mitbekommen habe, muss das, was Sie durchmachen, sehr, sehr schlimm sein.“ – ein solcher Satz bestätigt die Lebenswirklichkeit der Betroffenen, er stellt ihr Erleben nicht in Abrede, sondern meldet zurück, dass man begriffen hat, dass das Gegenüber gerade durch die Hölle geht.

=> Eine Freundin hatte sich im Bereich Krankenhausseelsorge ausbilden lassen und die hat von der Hiob-Geschichte erzählt und dass sie diese hilfreich findet: Hiobs Freunde kamen zu Hiob, nachdem dieser alles verloren hatte, was ihm wichtig war und sich in großer Trauer befand. Als die Freunde Hiob in seinem Schmerz bemerkten, so lautet die Geschichte, sagten sie 7 Tage und Nächte nichts, weil sie sahen, wie Hiob leidet. – Manchmal ist Schweigen eine Möglichkeit, wenn das Leid groß ist. Dabeibleiben, Danebensitzen, Hinsehen, Mitfühlen, Schweigen.

=> Ich halte viel davon, dem Gegenüber zu zeigen, dass man siehst, was gerade passiert. Also statt des ja ganz liebevollen Wunsches "viel Kraft" könntest Du sagen: "das tut mir so leid" oder "das muss so fürchterlich sein" - also eine Aussage treffen, die die Lebenswirklichkeit Deiner Freundin bestätigt und nicht nach einer "Lösung" sucht.

FORTSETZUNG UNTEN

Ich bin eine Freundin einer HG Betroffenen

Sonja2, Samstag, 02. Mai 2020, 15:20 (vor 1426 Tagen) @ Sonja2

FORTSETZUNG

=> Ich erinnere mich daran, dass Tom, der Mann von Chrissi, in seinem Bericht hier davon erzählte, wie er es erlebt: eine Frau mit HG ist oft sehr dünnhäutig und es kommt leicht zu Missverständnissen. Wenn Du es schaffst, das als Aspekt der Erkrankung zu sehen, dann nimmst Du das weniger persönlich. Was zwischen Dir und Deiner Freundin gerade steht ist die Last der Erkrankung. Es ist nicht persönlich gemeint. Letztlich ist es ja so, dass alles, was Deine Freundin Dir vorhält ein Ausruf dessen ist, wie elend es ihr geht und wie ungerecht es sich für sie anfühlt, dass sie durch diese Hölle muss und andere Frauen eine glückliche Schwangerschaft erleben dürfen. Und das stimmt ja auch: es ist fürchterlich ungerecht.

=> Deine Freundin ist möglicherweise mitten in einem Prozess der „Krankheitsverarbeitung“, in dem es darum geht, damit zurecht zu kommen, von einem Tag auf den anderen aus dem Leben gerissen zu sein und sich ein einem wirklich fürchterlichen, elenden Zustand wiederzufinden, der extrem belastet. Bei mir liegt das schon einige Jahre zurück, aber ich erinnere mich gut daran, wie ich verzweifelt meine engste Freundin anrief und weinend sagte, ich hätte gerne einfach nur 5 Minuten, in denen es mir nicht schlecht ist, dann wäre ich ja bereit, das weiter auszuhalten – aber 5 Minuten Pause, das würde ich mir so wünschen … Später fand ich Berichte, dass man früher Matrosen an den Masten festgebunden hat, wenn die seekrank waren, damit sie nicht von Bord springen. Übelkeit, die nicht aufhört, ist ein wirklich fürchterlicher Zustand und kann bis hin zur Suizidalität führen. Und das ist eben auch das Besondere an der HG: Wie sich schlimme Schmerzen anfühlen, das wissen viele Menschen, wie sich fürchterlicher Liebeskummer anfühlt, können auch die Meisten nachvollziehen – aber wie es ist, wenn einen 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche über Monate hinweg elendig schlecht ist, das weiß niemand, der das nicht erlebt hat. Und es fordert alle Kraft, damit zurecht zu kommen und daran nicht zu verzweifeln. Depressive Symptome sind häufig bei Frauen während der HG – und was die wenigsten wissen: aggressive Verhaltensweisen sind bei Depression häufig anzutreffen. Ihre Wut als kann Ausdruck ihrer Verzweiflung sein – und je wütender sie auf Dich ist, desto größer könnte ihr Hilfeschrei sein. Wahrscheinlich braucht sie Dich umso mehr, je mehr sie Dich weg- und vor den Kopf stößt.

Ein Freundschaftsbeweis kann sein, dass Du Dich gut über die Erkrankung informierst, dass Du – wenn sie das will – Dich mit ihrem Partner und/oder ihren Eltern darüber austauscht, wie ihr sie am besten unterstützen könnt (medizinisch und psychisch und im Alltag, mit dem ersten Kind ...) - natürlich unter Beachtung Deiner Möglichkeiten und Grenzen. Spiegel ihr, dass Du keine Ahnung hast, wie sich ihr Leben anfühlen musst, dass Du aber Dir vorstellst, dass es unbeschreiblich schlimm sein muss. Sei einfach da mit netten Worten und praktischen Angeboten. Gib ihr keine Tipps, was sie machen könnte (GANZ WICHTIG!). Zeige ihr, dass Dir klar ist, dass ihr Zustand nicht ihre Schuld ist, sondern ein ganz ungerechter und übler Zug des Schicksals … das ist, was mir so spontan dazu einfällt.

Und natürlich ganz wichtig: Achte bei all dem auch gut auf Dich, auf Deine Grenzen, sorge dafür, dass Du Dich nicht überforderst und es Dir gut geht. Du bist auch schwanger, Du hast eine große Verpflichtung gegenüber Dir selber und Deinem Kind. Es geht also nicht darum, dass Du Dich nun weiter verletzen lässt. Aber vielleicht gelingt es Dir aus einem Blickwinkel auf Eure Situation zu blicken, von dem aus ihre Verletzungen Dir nicht mehr (so) weh tun.

Ich bin gespannt, was andere Betroffene darüber denken.

Eine Frau, die Rat sucht wegen der HG ihrer Freundin, das haben wir hier in all den Jahren sehr selten. Das ist ein ganz feiner Zug von Dir.

Euch alles Gute: Dir mit Deiner Schwangerschaft und Euch für Eure Freundschaft,
Sonja

Ich bin eine Freundin einer HG Betroffenen

maris, Sonntag, 03. Mai 2020, 22:34 (vor 1425 Tagen) @ Sonja2

Sonja, es ist immer so spannend deine messages zu lesen... wie ein spannedes buch ;)

Ich bin eine Freundin einer HG Betroffenen

maris, Sonntag, 03. Mai 2020, 22:36 (vor 1425 Tagen) @ maris

Chrissi,

steht mal irgendwann ein treffen mit hyperemesis mamas an? gab es schon mal so was? hätte jemand lust und zeit? natürlich nach der krisenzeit

Ich bin eine Freundin einer HG Betroffenen

Sonja2 @, Sonntag, 03. Mai 2020, 23:34 (vor 1425 Tagen) @ maris

Liebe Maris,

erst einmal vielen Dank für Dein Feedback. Hat mich gefreut. Danke.
Kann das sein, dass Du das erste Mal hier geschrieben hast? Herzlich willkommen!

Was ich mir gut vorstellen könnte wäre ein Online-Treffen. Möglicherweise hat die eine oder andere von uns in den letzten Wochen darin Erfahrungen gesammelt. Gerne übernehme ich die Organisation. Ihr könnt mich anschreiben indem Ihr den Briefumschlag oben anklickt oder Ihr meldet Euch bei Chrissi, wenn Interesse bestehen sollte. (@ Chrissi: Liebe Chrissi, ich melde mich morgen diesbezüglich bei Dir :-) . Liebe Grüße!)

Das Thema hier finde ich sehr spannend. Da könnten wir hier eine eigene Seite daraus entwickeln:
wie wir als Betroffene Freundschaften erlebt haben, was uns gut getan hat, was uns belastet hat, was wir uns wünschen oder gewünscht hätten, bei welchen Themen wir besonders empfindlich waren ...
Ich kann das auch anonymisieren und zusammenstellen. Wer also dazu etwas schreiben will: entweder natürlich hier oder via Mail an mich oder an Chrissi (dann bitte mit Angabe, ob sie das weitergeben darf an mich oder nicht).

Euch alles Gute!
Sonja

Ich bin eine Freundin einer HG Betroffenen

Chrissi ⌂ @, Montag, 04. Mai 2020, 11:52 (vor 1424 Tagen) @ maris
bearbeitet von Chrissi, Dienstag, 05. Mai 2020, 11:52

Liebe Maris,

Zu Deiner Frage: Ein Treffen gab es mal vor ganz vielen Jahren. Wir haben uns versucht in der Mitte der Entfernung aller zu treffen und es wurde Düsseldorf. Das war schön und der Erfahrungsaustausch war bereichernd.
Ich finde Sonja s Idee des "online-treffens" schön.
Das bekommen wir sicherlich hin
Wäre das auch etwas für Dich?

Herzliche Grüße Chrissi

Ich bin eine Freundin einer HG Betroffenen

Chrissi ⌂ @, Dienstag, 05. Mai 2020, 11:44 (vor 1423 Tagen) @ Laraina

Liebe Laraina,
vielen Dank für Deinen Eintrag hier. Er spiegelt so gut wieder, welche Bandbreite Hyperemesis hat, in welche Lebensbereiche hinein es "wirkt" und mitunter schwierig ist...
Sonja hat ja schon ganz fantastisch und ausführlich geantwortet.
Ich finde es ganz mutig von Dir hier Deine Gefühle zu schildern. Das bedeutet eben auch, dass Du Dich damit beschäftigst, dass Du Anteil am Leben Deiner Freundin nimmst, dass Dir die Freundschaft ganz viel wert ist, dass Dein Herz nicht ganz mit der Situation klar kommt, dass Du Dich sorgst und noch vieles mehr.
Und das finde ich GANZ GANZ TOLL. Das ist das was Hyperemesis- Betroffene brauchen. Wahrgenommen zu werden, so angenommen zu sein wie man heute in diesem Moment gerade ist, kümmern, mitdenken, mitfühlen.
Du bist eine prima Freundin, die sich so eingehend damit beschäftigt!

Ich schicke Dir herzliche Grüße
Chrissi

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